Warum ich schreiben lernen will
Ich starb kurz vor Morgendämmerung, in jener Zeit, wenn das Schwarz der Nacht seine Tiefe verliert und die Natur auf einmal ganz still wird. Mein Herz flatterte, setzte für einige Sekunden aus, schlug ein letztes Mal und verstummte. Als Andreas sich wie immer um Viertel nach fünf aus dem Bett quälte, bemerkte er nichts. Kurze Zeit später wurde er vom morgendlichen Pendlerstrom verschluckt.
Die Frühlingssonne lächelte fröhlich hinter den Fensterläden, als mein zehnjähriger Morgenmuffel seinen verwuschelten Kopf ins Zimmer steckte.
«Maam, wir haben verschlafen… Steh auf! Maaam?»
Seine warme Hand berührte meinen kalten Arm. MAMA!.. Tonlos, wie im Fernseher, den jemand auf stumm geschaltet hatte, brach die helle, friedliche Welt um ihn herum zusammen. Weinend wie ein Kleinkind rannte er aus dem Schlafzimmer. Er heulte immer lauter und wusste nicht, dass sein unbekümmertes Leben gerade unter den Trümmern begraben war. Er wird nicht bei seinem Stiefvater in unserem Haus mit dem riesigen sonnendurchfluteten Kinderzimmer im Dachgeschoss bleiben dürfen, sondern bei seinem depressiven kranken Vater und dessen junger vietnamesischer Frau aufwachsen, den Übertritt ins Gymnasium verpatzen, später die Lehre hinschmeißen, von einem Gelegenheitsjob zum nächsten stolpern, keine Freunde und keine Frau haben, gewalttätig werden…
Ich schluchze auf, werfe die Cremetube auf den Nachttisch und stürme zu Andreas ins Arbeitszimmer.
«Liebling, kannst du dich bitte am Morgen, bevor du aus dem Schlafzimmer gehst, vergewissern, dass ich noch atme? Ich will nicht, dass Jan meine Leiche entdeckt.»
Mein Mann lässt den Stift sinken und nimmt seine Lesebrille ab.
«Mein Gott.» Er sieht mich prüfend an. «Geht es dir nicht gut?»
«Oh.»
Andreas sieht müde aus, seine Augen sind gerötet. Aus Jans Dachzimmer dringt Rock ’n’ Roll, der kleine Ursus putzt sich mit der Pfote konzentriert die Schnauze.
«Es tut mir leid, Liebling. War nur eine Fantasie. Vergiss es.»
Andreas seufzt und beugt sich wieder über seinen Korrekturen. Er hat sich daran gewöhnt, zu jeder Tageszeit mit dramatischen, sentimentalen oder albernen Geschichten konfrontiert zu werden, die er meistens mit dem Gleichmut eines Rhinozeros hinnimmt, aber manchmal wird es ihm zu bunt. Als ich ihn eine Stunde vor unserer standesamtlichen Trauung frage, was wohl geschieht, wenn ich bei der Zeremonie Nein sage, sieht er mich unverwandt an und meint, ich solle mich lieber fertig schminken. Doch ich stecke bereits in einer wunderschönen traurigen Geschichte, deren Wendungen ich in den besten Farben vor ihm ausbreite. Da verliert mein Rhinozeros die Fassung. Wahrscheinlich überlegt er sich in diesem Moment, ob er selbst Nein sagen soll, denn wer will schon so eine Spinnerin heiraten?
Irgendwann, als bei uns wieder Ruhe einkehrt und wir an einem warmen Nachmittag mit einem Gläschen Wein im Garten sitzen, fragt Andreas: «Hast du schon einmal versucht, deine Geschichten aufzuschreiben?» Ich betrachte das samtige Dunkelrot in meinem Glas. «Habe ich. Ein paar Mal. Einmal, genau genommen.»
Damals, in der achten Klasse, mussten wir einen Aufsatz zu einem freien Thema schreiben. Wie Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen oder so. Endlich etwas spannenderes, als wahrer und falscher Patriotismus in Krieg und Frieden oder Vera Pavlownas Träume. Auf fünf Doppelseiten entfaltete ich die herzzerreißende Geschichte einer Sechzehnjährigen, die plötzlich schwer erkrankt war, schilderte ihre gezwungene Isolation zu Hause, ihre Schmerzen und die verzweifelten Bemühungen, den Schulstoff der Abschlussklasse trotz lähmender Schwäche zu bewältigen. Ihre Freunde hatten sich von ihr abgewendet, nur eine einzige Freundin war bei ihr geblieben, sie hatte die Kranke oft besucht, aufgeheitert, ihr bei den Aufgaben geholfen und Neuigkeiten aus der Schule erzählt. Schniefend und schluchzend beschrieb ich, wie meine blasse, dünn gewordene Heldin von ihrer treuen Freundin im Rollstuhl zur Abschlussfeier geschoben worden war und ihr Zeugnis entgegengenommen hatte. Sie hatte es geschafft und ich war unheimlich stolz auf sie und auf ihre Freundin. Und auf mich. Die Lehrerin wird Augen machen, wenn sie das liest.
Doch diese hob nur ihre dünnen Augenbrauen. «Du bekommst eine gute Note, weil dein Aufsatz fehlerfrei ist. Aber nächstes Mal erfinde eine Geschichte gefälligst selbst, statt eine aus der Zeitschrift abzuschreiben». Wow. Meine Geschichte hätte in einer Zeitschrift stehen können. Unglaublich. Da trat er in mein Leben, der Traum von vielen Geschichten, die ich der Welt erzählen würde.
Die Jugendträume sind zarte Geschöpfe und haben gewöhnlich eine kurze Lebenserwartung, doch meiner erwies sich als zäh. Er überlebte elf Jahre naturwissenschaftlichen Studiums, zwei Berufswechsel, vier Heiraten, zwei Geburten und eine Auswanderung. Er begleitete mich kaum wahrnehmbar, wie ein Hauch Climat von Lancôme, weigerte sich jedoch konsequent, sich in der Luft aufzulösen.
Die Sonne spiegelt sich in meinem Weinglas, ein sanfter Wind raschelt in den Blättern und auf einmal wird mir klar, was zu tun ist. «Liebling, ich muss schreiben. Ich kann es zwar nicht, aber ich werde es lernen.» Der Entscheid ist gefasst, ich fühle mich frei und leicht. Die Geschichten aus meinem Kopf strömen auf die Straße, jubeln, tanzen, weinen vor Freude, gratulieren einander zum Ende ihrer langen Gefangenschaft. Ich proste ihnen zu.
Einige Wochen später sitze ich in meinem aufgeräumten Arbeitszimmer. Den Job habe ich aufgegeben, den letzten Lohn in einen Schreibkurs investiert. In meinem Regal stehen Ratgeber bekannter Schriftsteller, Bücher über das Schreiben, Wörterbücher, Lexika. Ich liebe sie bereits, meine neuen Begleiter. Herbstregen prasselt auf das Dach des alten Bauernhauses nebenan. Ich öffne einen neuen Block und schreibe auf die erste Seite:
«Ein Weg, der im Regen anfängt, führt ins Glück», pflegte Marinas Mutter zu sagen. Marina schloss ihren Regenschirm und hievte den schweren Koffer in den Flughafenexpress. Ach, Mama, ich hoffe so sehr, dass du recht hast…