Jeremias Gotthelf «Die schwarze Spinne»: Emanzipation, Konformismus und lebendige Natur
Ich hätte nie gedacht, dass die Schweizer Klassik so spannend ist. «Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf konnte ich nicht weglegen, bis ich es fertig gelesen hatte.
Es liest sich wie ein Krimi. Zuerst fragt man sich, ob die Bauern es schaffen, den Satan zu überlisten. Man ahnt, dass es ihnen nicht gelingen wird, ein Deal ist ein Deal, aber man wünscht ihnen doch irgendeinen Ausweg.
Dann will man wissen, ob sie aus ihrer wundersamen Rettung durch die Selbstaufopferung einer Mutter etwas lernen. Sie tun es, aber bald erkennt man, dass die Lehre nicht von Dauer ist. Man traut dem Frieden nicht, denn es ist zu einfach, unsere Lebenserfahrung macht dagegen einen Aufstand.
Und am Schluss hofft man, dass die Bauern die Spinne endlich für immer in den Griff bekommen. Das geschieht auch. Es ist ein Happy End, aber es ist nicht geschenkt, sondern mit Auflagen verbunden: Gottesfurcht und gutes Gewissen.
Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tag, noch bei Nacht.
An folgenden sechs Dingen hatte ich beim Lesen besondere Freude.
1. Die Hauptfigur Christine, die das Unheil über die Bauern bringt
Aus heutiger Sicht ist es eine emanzipierte Frau:
Sie war nicht von den Weibern, die froh sind, daheim zu sein, in der Stille ihre Geschäfte zu beschicken, und die sich um nichts kümmern als um Haus und Kind. Christine wollte wissen, was ging, und wo sie ihren Rat nicht dazu geben konnte, da ginge es schlecht, so meinte sie.
Einiges an ihr weckt sogar Sympathie:
Unterdessen war sie aber nicht müßig, die konnte noch reden und schaffen zur gleichen Zeit.
Ihren Mann hat sie im Griff:
Christines Mann aber, der gewöhnt worden war, dass sein Wort erst durch die Zustimmung seiner Frau Kraft erhielt …
Kein Wunder, dass der arme Mann in der Geschichte nicht einmal einen Namen bekommt und nur als Christines Mann erscheint. Auch heute kennt jeder bestimmt ein solches Ehepaar.
Männer findet Christine grundsätzlich praktisch:
Da klopfte doch ihr Herz, sie hätte lieber die Männer hineingestoßen, um hintendrein sie schuld geben zu können. Aber die Zeit drängte, kein Mann war da als Sündenbock …
Also nimmt sie die Sache selbst in die Hand, was mächtig schief geht, denn die gute Frau überschätzt sich.
Als Leser entwickelt man sogar Mitgefühl für sie. Sie ist aus Lindau zugezogen, die anderen Frauen im Dorf akzeptieren sie nicht, tratschen über sie hemmungslos und außerdem
… ihr nie hätten glauben wollen, dass der Bodensee größer sei, als der Schlossteich.
Wer wäre da nicht empört? Da kommst du aus der großen weiten Welt in ein gottverlassenes Bergtal, und die Hinterwäldler glauben dir kein Wort und meinen, ihr Kaff sei das Größte, was es je gegeben hat.
2. Der Plot
Das Unheil (das Sterbet) bricht zweimal herein, absolut realistisch. Hand aufs Herz, von einmal lernt doch niemand etwas. Wenn uns durch eigenes Verschulden ein Unglück widerfährt und wir es überstanden haben, sagen wir: «Schwein gehabt» und machen nach einer Weile weiter. Erst wenn’s wieder knallt, werden wir schlauer.
3. Der Hintergrund
Es muss die Pest sein, die Gotthelf hier beschreibt. Dafür sprechen die lawinenartige Verbreitung des «schwarzen Todes» und auch die Tatsache, dass Christine, die die schwarze Spinne aus ihrer Wange gebärt, zugezogen ist.
4. Die Natur ist lebendig
… die Eichen im Walde rauschten auf, sich entsetzend.
Ein Gewitter:
… und jede Wolke ward zum Kriegesheer, und jede Wolke stürmte an die andere, eine Wolke wollte der anderen Leben, und eine Wolkenschlacht begann …
Die Nacht bricht an:
… bis groß und golden der Mond am Himmel stund, die Sterne aus ihren Kammern traten, zu mahnen die Menschen, dass es Zeit sei, schlafen zu gehen in ihre Kämmerlein.
Es herrschte zur Zeit Gotthelfs wahrscheinlich noch die aus der heidnischen Zeit übernommene allgemeine Einstellung, dass die Natur – der Wald, die Berge, der Himmel – beseelt ist. Heute bringen wir der Natur wesentlich weniger Ehrfurcht entgegen, was ich persönlich schade finde.
5. Sprache
Die Wiederholungen und Reime finde ich herrlich:
In Lüften und Klüften heulte und toste es, als ob die Geister der Nacht Hochzeit hielten in den schwarzen Wolken.
Oder:
Aus allen Schlünden und Gründen stürmte es heran…
Besonders angetan haben es mir die Hyperbeln.
Auf rein gefegter Bank vor dem Hause neben der Türe saß die Großmutter, schönes Brot schneidend in eine mächtige Kachel, dünn und in eben rechter Größe jeden Bissen, nicht so unachtsam wie Köchinnen oder Stubenmägde, die manchmal Stücke machen, an denen ein Walfisch ersticken müsste.
Mir selbst fällt es schwer, eine passende Hyperbel zu finden, da kann ich mir bei Gotthelf eine Scheibe abschneiden:
Nur ein junges Weibchen weinte gar bitterlich, dass man unter seinen Augen die Hände hätte waschen können …
6. Die Menschenkenntnis
Die Psychologie einer Gemeinschaft wird schonungslos auseinander genommen:
… sie hätten von der Sache lieber nichts mehr gewusst, aber keiner machte ihr eine Ende, es tröstete ein jeder sich: fehle es, so trage der andere die Schuld.
Wie oft passiert das in unserer Gesellschaft, im Großen wie im Kleinen?
Es war ein großes Schweigen über sie gekommen. Spott mochte niemand wagen, der Sache beistimmen auch nicht gerne; es hörte jeder lieber auf das erste Wort des andern, um darnach die eigene Rede richten zu können, so verfehlt man sich am wenigsten.
Gotthelf wertet dieses Verhalten nicht, aber als Leser bekommt man ob dieser Feigheit schlechtes Gewissen und schwört sich, mehr Zivilcourage an den Tag zu legen.
Fazit
«Die schwarze Spinne» war mir eine freudvolle Lektüre.
Es ist nur schade, dass man nicht weiß, was an solchen Dingen wahr ist. Alles kann man kaum glauben…
Das macht nichts. Geschichten erzählen gehört zu Menschen seit Urzeiten, denn:
Sei jetzt daran wahr, was das wolle, so könne man viel daraus lernen [ … ] und dazu hätten sie noch kurze Zeit gehabt…
Darum lesen wir gern auch heute noch erfundene Geschichten, nicht wahr?