Ich kann mich nicht konzentrieren
Halb neun. Ich schlage das Lernheft auf.
«Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Deutschland …»
Irgendwie ist es mir kalt, obwohl ich unter dem Pullover ein langärmeliges T-Shirt anhabe. Der Pullover ist zu dünn. Nein, bei dieser Kälte kann ich mich nicht konzentrieren. Ich hole meinen Wollschal. So ist es gleich viel besser. Also…
«Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Deutschland …»
Mein Gesicht juckt. Diese neue Schutzcreme ist eigenartig, manchmal brennt sie auf der Haut und ein andermal wieder nicht. Wahrscheinlich hängt es davon ab, welches Serum ich vorher auftrage. Ich fahre mit den Fingerspitzen vorsichtig über meine Wange. Nur nicht zu fest kratzen, sonst reibe ich die Creme ab und der Schutz ist futsch.
Ähm, wo war ich denn schon wieder?
«Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Deutschland …»
Was bedeutet eigentlich «zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts»? Zwischen 1900 und 1920, vor hundert Jahren also. Hundert Jahre sind viel. Was zählt in hundert Jahren überhaupt noch? Und was klemmt bei mir da zwischen den Backenzähnen? Ein Stückchen Mandarinenhaut vom Frühstück, bäh! Ich habe doch die Zähne geputzt. Oder etwa vergessen?
Im Bad reiße ich ein Stück Zahnseide ab und begutachte mein Gesicht im Spiegel. Die Cremeschicht scheint unbeschädigt zu sein. Meine Haut ist schön prall und glatt für mein Alter. Immerhin kann ich damit punkten, wenn ich schon nichts Gescheites zu Papier bringe. Papa hat Recht, nach einem Sinn sucht man in meinen Geschichten vergeblich. Was habe ich überhaupt zu melden? Nehmen wir zum Beispiel Lidia. Das nenne ich Schriftstellerin. Sie hat Germanistik und Philosophie studiert; was sie produziert, ist echte Literatur. Was bin ich gegen sie mit meinem holprigen Deutsch und den paar Blogartikeln? Meine Geschichten interessieren eh niemanden.
Die Mandarinenhaut landet im Abfall, ich kehre ins Arbeitszimmer zurück.
«Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Deutschland …»
Den Schreibkurs werde ich natürlich abschließen. Aber mal ehrlich, ich vergeude damit nur meine Zeit und das Geld meines Mannes. Ich und Literatur, das ist doch ein Witz.
«… dürfen Sie Ihre literarischen Ansprüche nicht zu hoch schrauben …» Moment mal, was habe ich da gelesen?
«…und sie müssen in der Lage sein, sehr präzise mit Vorgaben umzugehen.» Hm. Die letzte Einsendeaufgabe habe ich auf die Zeile genau geschrieben. Und meine Studienleiterin hat sie gelobt. Heißt das, dass ich es doch noch lernen kann? Dass eine meiner Geschichten es irgendwann an den Leser schafft?
«Worauf müssen Sie achten, wenn Sie Kurzgeschichten schreiben?» Das will ich wissen. Meine Kaffeetasse ist schon leer? Ach, egal. Ich kann mir später neuen Kaffee machen. Jetzt muss ich weiterlesen.
2 Gedanken zu „Ich kann mich nicht konzentrieren“
Selbstzweifel sind normal — und gesund, sofern nicht im Übermass betrieben. Ganz ähnlich wie Wein trinken, allerdings nicht so angenehm.
Da stimme ich dir voll zu, lieber Bruno!