Ein Rätsel

Ein Rätsel

Elli hielt beim Bürsten ihrer Kupferlocken inne. «Aber Schatz», sagte sie gekränkt, «hier ist es doch so friedlich. Warum sollen wir in die Stadt fahren?»

«Weil das verdammte Kaff todlangweilig ist! Nicht einmal ein anständiges Bier kriegt man hier.» Martin nahm angewidert einen Schluck aus seiner Dose. «Das alles geht mir auf den Wecker!»

«Aber Schätzli…» Ellis Augen füllten sich mit Tränen. In letzter Zeit war sie ungewöhnlich dünnhäutig. «Wir wollten doch einen gemütlichen Urlaub zu zweit, nur du und ich. Zu Hause hast du immer so wenig Zeit, und ich dachte, wenigstens hier…»

«Dein ständiges Geheule ist zum Kotzen! Ich fahre allein in die Stadt.» Martin knallte die Bierdose auf den Tisch, so dass einige Tropfen überschwappten, griff nach seinem Handy und verließ das Haus.

Elli sank auf einen Terrassenstuhl. Sie hätte nachgeben sollen, schließlich war es Martin, der Erholung brauchte. Seit der Chef seiner Kleinfirma an Diabetes erkrankt war, übernahm Martin nach und nach die Führung und mühte sich mit einem Fernstudium in Betriebswirtschaft ab. Diese Woche war ihr einziger gemeinsamer Urlaub bis Weihnachten. Elli hatte alles organisiert, ein weiß getünchtes Ferienhäuschen in einem griechischen Fischerdorf gemietet und zwei süße Sommerkleider gekauft, eins mit Sonnenblumen und eins mit rot-gelben Pfingstrosen, doch alles schien umsonst zu sein. Martin war mies drauf und verlor oft die Nerven. Und jetzt war der Frieden endgültig hin.

Eine Träne tropfte auf eine rot-gelbe Pfingstrose. «Mach jetzt kein Drama», mahnte sich Elli. Von ihrem Platz sah sie zur Bucht hinab, das Meer glitzerte in der Abendsonne wie flüssiges Gold. Holzstufen führten von der Terrasse zu einem schmalen Pfad. Er schlängelte sich durch das Gebüsch zu einem Holzsteg, an dem ein Boot baumelte. Das Bötchen musste einmal grün gewesen sein, unter der Bank lagen zwei Ruder. «Sie können nehmen Boot, wenn wollen», hatte der schnauzbärtige Grieche bei der Schlüsselübergabe gesagt. Eine kleine Bootsfahrt, warum nicht? Das wird ihr gut tun.

Das Boot knarzte, als Elli hinein kletterte. Es roch nach Fisch. Sie löste das Seil, stieß sich vom Steg ab und ruderte aus der Bucht. Die Luft war lau, das Meer ruhig, und Elli entspannte sich allmählich. Sie durfte Martin seine Gereiztheit nicht übel nehmen. Er arbeitete einfach zu viel, aber schließlich tat er es für sie beide. Wenn er ab Januar die Firma übernimmt und mehr verdient, können sie sich eine neue Einrichtung leisten. Schlicht und hell, im skandinavischen Stil, nichts teures. Sie müssen sparsam sein, denn sie werden Kinder haben. Elli ließ die Ruder sinken und schloss die Augen. Ihre Kinder… Ein blonder Junge, zielstrebig und lebhaft wie Martin, und ein süßes rothaariges Mädchen… Vielleicht bekommt sie sogar Zwillinge wie Tante Katarina, aber bei ihr, Elli, wird es deswegen nicht so drunter und drüber gehen.

Ein Windstoß blies Ellis Kleid auf. Sie zuckte zusammen und sah sich um. Es dämmerte. Schemenhaft zeichneten sich die Konturen des Ufers ab, rechts flackerten in der Ferne die Lichter der kleinen Stadt, wo Martin gerade seinen Spaß suchte. Die Bucht war nicht zu sehen. Elli versuchte sich zu orientieren, konnte aber in der schnell eintretenden Dunkelheit keine Landmarken erkennen. Sie ruderte hektisch zum Ufer. Die Lichter glitten langsam nach links, doch das Ufer rückte kein bisschen näher. Sie steuerte auf die Stadt zu und ruderte noch hektischer.

Zeit verstrich, die Dunkelheit wurde dichter, die Ruder schwerer – und die Stadt schien sich zu entfernen. Elli  verbot sich an Strömungen zu denken und kämpfte ihre Verzweiflung nieder. «Es kommt schon gut», sagte sie laut.

Diese Worte hatten bestimmt eine magische Kraft, denn gleich hörte sie in der Ferne ein Brummen. Es näherte sich rasch und wurde zu einem kleinen Schiff. Ein Lichtstrahl riss Ellis Bötchen aus der Schwärze, eine Sirene heulte auf. Zwei uniformierte Männer sprangen zu ihr ins Boot. Das musste die Küstenwache sein. Elli war gerettet. Erleichtert schloss sie die Augen und dankte dem Himmel.

Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in den Lauf einer Maschinenpistole. Ihr wurden die Arme ausgedreht, sie spürte Metall an den Handgelenken und taumelte. Eiserne Hände hielten sie fest, betasteten grob ihren Körper. Sie schrie auf. Schließlich wurde sie aufs Schiff hinauf gezerrt. Ein untersetzter Mann mit fleischiger Nase musterte sie kurz, warf einen Blick auf das Blatt in seiner Hand und bellte einen Befehl. Der Typ mit der Maschinenpistole packte Elli am Arm und schob sie in einen stickigen fensterlosen Raum unter Deck. Die Tür fiel ins Schloss, und das Schiff setzte sich in Bewegung.

Am nächsten Nachmittag schien die Sonne schräg in das kleine Straßencafé an der Uferpromenade hinein. Elli rührte gedankenverloren in ihrem Cappuccino.

«Wie konnten dich die Deppen bloß für diese Gaunerin halten?», schimpfte Martin. Er war in der vergangener Nacht zum Polizeirevier gekommen, um Ellis Identität nachzuweisen.

«Man wusste, dass sie mit einem Boot fliehen wollte.»

«Als ob sonst niemand hier ein Boot hätte! Und sie sieht dir gar nicht so ähnlich.»

«Doch, Schatz, eigentlich schon. Die Haarfarbe und das Gesicht…» Sie konnte nicht aufhören, an das Bild der Fremden zu denken, das ein Polizist ihnen gezeigt hatte. Es war ein sonderbares Bild gewesen. Elli hatte das Gefühl gehabt, auf diesem kleinen, unscharfen Bild ihre eigenen Züge zu erkennen, obwohl der Ausdruck nicht der ihre war. Die Fremde hätte ihre Zwillingsschwester sein können. Doch Elli war ein Einzelkind.

Sie beschloss, nach der Heimkehr ihre Mutter nach ihren Verwandten im Ausland zu fragen, und wandte sich dem Cappuccino zu.

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