Eins plus Eins gibt die Hälfte
Erfolgreiche Schriftsteller sind Himmelsbewohner und schweben über uns Sterblichen in unerreichbarer Vollkommenheit, von Genie geküsst und geschwängert und über jede Schwäche erhaben.
Nicht so die gemeine Schreibanfängerin. Diese kümmerliche Kreatur ist anfällig für Fehler und Mängel jeder Art, die sie Schreibkrankheiten nennt – um zu betonen, dass sie nichts dafür kann, denn man wird von Krankheiten befallen.
Eine der schlimmsten Schreibkrankheiten soll Adjektivitis sein, bei dem Adjektive in Fontänen aus der Feder spritzen. Ich selbst litt eine Zeitlang an einer akuten Form, ohne es zu merken. In einer meiner ersten Geschichten schrieb ich:
«Sie blickte über die Terrasse hinweg zur ruhigen Bucht, wo das Meer wie flüssiges Gold in der tief stehenden Abendsonne glitzerte. Verwitterte Holzstufen führten von der Terrasse hinunter zu einem schmalen steinigen Pfad. Er schlängelte sich durch das kurze, trockene Gebüsch und führte zu einem schiefen Holzsteg, an dem ein kleines Boot in den zahmen Wellen baumelte.»
Damals fand ich das eine gefühlvolle Beschreibung.
Ein paar Monate später las ich bei Sol Stein in «Über das Schreiben»:
«Überflüssige Worte und Sätze lassen einen Erzähltext schwammig werden. […] Die Entfernung von schlaffem Gewebe bringt fiktionale Literatur auf Trab.»
Schlaffes Gewebe entfernt man wie folgt:
«Um das Tempo einer Geschichte zu steigern und gleichzeitig ihre Stärken herauszustellen, empfiehlt es sich, sämtliche Adjektive und Adverbien herauszunehmen und nach sorgfältiger Prüfung nur die wenigen notwendigen wieder einzufügen.»
Das funktioniert, denn:
«Die meisten Adjektive und Adverbien sind entbehrlich.»
Zur Bekräftigung zitiert Sol Stein Mark Twains Ausspruch:
«Wenn Sie ein Adjektiv erwischen, machen sie ihm den Garaus!»
…und stellt seine eigene Gleichung für die Verwendung von Adjektiven und Adverbien auf:
«Eins und Eins ist die Hälfte.»
will heißen, zwei Adjektive haben nur eine halb so große Wirkung wie ein einziges.
Ich probierte Steins Methode aus und strich in meiner Beschreibung alle Adjektive:
«Sie blickte über die Terrasse hinweg zur Bucht, wo das Meer wie Gold in der Abendsonne glitzerte. Holzstufen führten von der Terrasse hinunter zu einem Pfad. Er schlängelte sich durch das Gebüsch zu einem Holzsteg, an dem ein Boot in den Wellen baumelte.»
Das las sich gleich viel besser. Unglaublich. Warum war ich nicht selbst darauf gekommen? Die erste Fassung war – nach Jane Austins Ausdruck – «mehr geräuschvoll als gefühlvoll» gewesen. Übrigens lautete der Arbeitstitel der Geschichte «Jenseits von Eden», was weniger zum Inhalt, sondern viel mehr zum Schreibstil passte.
Später habe ich auf diese Weise die gesamte Geschichte überarbeitet. Jetzt sieht die oben erwähnte Beschreibung so aus:
«Von ihrem Platz sah sie zur Bucht hinab, das Meer glitzerte in der Abendsonne wie flüssiges Gold. Holzstufen führten von der Terrasse zu einem schmalen Pfad. Er schlängelte sich durch das Gebüsch zu einem Holzsteg, an dem ein Boot baumelte.»
Die Geschichte ist schlanker und klarer geworden, passend dazu trägt sie den schlichten Namen «Ein Rätsel». Man kann sie hier lesen.
2 Gedanken zu „Eins plus Eins gibt die Hälfte“
Vielleicht gibt es noch einen weiteren Grund, Adjektive und Adverbien sparsam zu verwenden: als Leser möchte ich die Freiheit haben, mir die Orte, Menschen, Gegenstände einer Erzählung selber „auszumalen“. Zu viele Adjektive und Adverbien schränken meine Vorstellungskraft ein.
Unter diesem Blickwinkel habe ich es noch nie betrachtet, aber es ist ein wichtiger Aspekt. Der Autor soll seine Leser über den Schauplatz lediglich orientieren und nicht in ihren Vorstellungen durch zu detaillierte Beschreibungen bevormunden. Beim Lesen kann man der eigenen Fantasie freien Lauf geben, das ist der größte Unterschied zum Film und der Grund, warum geschriebene Geschichten immer noch viele Menschen faszinieren.
Wieder etwas gelernt, danke 🙂