Dorothea Brande «Schriftsteller werden»
«Warum dieses Buch einzigartig ist», heißt es anstelle des Vorwortes. Was für ein vorbildliches Selbstbewusstsein legt Dorothea Brande an den Tag, oder eher legte, denn sie ist vor fast siebzig Jahren gestorben. Die amerikanische Erstausgabe erschien 1934, aber bis heute hat das Buch kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt. Die Autorin verspricht nicht mehr und nicht weniger, als eine Zauberformel für den Schreibschüler, einen Initiationsritus, bei dem er in den Kreis der Schreibenden aufgenommen wird.
Was macht diese Formel aus?
Aus Schein wird Sein.
«Die Bücher über Technik, Stil und Handlungsaufbau werden Ihnen völlig anders erscheinen und wesentlich nutzbringender sein, wenn Sie erst einmal erkannt haben, was es bedeutet, ein Schriftsteller zu sein und was die Persönlichkeit eines Künstlers ausmacht. Und wenn Sie gelernt haben, sich wie einer zu verhalten und Ihr tägliches Leben sowie Ihr soziales Umfeld so zu gestalten, dass es im Hinblick auf Ihr Ziel hilfreich und nicht hinderlich ist.»
Dieses Buch
«lehrt den Anfänger nicht, wie ein Schriftsteller zu schreiben, sondern wie ein solcher zu sein, was zwei völlig verschiedene Dinge sind.»
Diese Ansicht gefällt mir. Einerseits zeigt sie einen ganzheitlichen Zugang, den unser Leben und vor allem unsere Medizin so bitter vermissen lassen, andererseits hat sie etwas von der nüchternen mathematischen Logik, ganz nach dem Motto: Sind bestimmte Voraussetzungen erfüllt (wie ein Schriftsteller sein), folgt daraus der gewünschte Schluss (ein Schriftsteller sein). Eine Neuauflage des duck test: Wenn jemand wie ein Schriftsteller lebt, wie ein Schriftsteller denkt und wie ein Schriftsteller schreibt, dann ist er wahrscheinlich ein Schriftsteller.
Es lebe der Leistungsdruck …
… den man sich selbst auferlegt.
«Mit nur mäßigem Arbeitseifer kommt man nicht voran.»
Ein angehender Autor wird unweigerlich
«anfangen, gerade im Trend liegende Autoren zu lesen, mit dem Ergebnis, dass er sich nun selbst verrückt macht, weil ihm entweder der Humor von Autor A oder der Scharfsinn von Autor B fehlt.»
Oder beides. Und auch die Fantasie von Autor C, der Mut von Autor D, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Woher wusste Dorothea Brande, wie es mir ein Dreivierteljahrhundert später gehen wird? Könnte ich für einen Sekundenbruchteil annehmen, dass bereits andere Anfänger vor mir an einem akutem Mangel an Selbstbewusstsein litten – und es anderen nach mir nicht anders ergehen wird?
«Jeder Schriftsteller kennt diese Zeit der Hoffnungslosigkeit.»
Ich fühle mich gut aufgehoben in dieser Gesellschaft, aber bald teilt sie sich. Einige geben auf und versinken im «Sumpf der Mutlosigkeit» – für immer.
«Andere schaffen es, ans gegenüberliegende Ufer des Sumpfes zu gelangen, sei es durch eine plötzliche Eingebung oder einfach durch Hartnäckigkeit.»
An diesen Satz denke ich oft. Er kommt mir in den Sinn, wenn ich zwei Wochen brauche, um eine zwei Absätze lange Ortsbeschreibung zu verfassen, wenn ich einen Text zum fünfunddreißigsten Mal überarbeite und er immer noch hölzern klingt, wenn meine Geschichten kritisiert und abgelehnt werden. Eine plötzliche Eingebung ist nicht mein Fall. Alles, worauf ich setzen kann, ist Hartnäckigkeit.
Schizophrenie, wie gesagt.
(M. Bulgakow, «Der Meister und Margarita»)
«Die zwei Persönlichkeiten eines Schriftstellers», deutet die Autorin verlegen das Phänomen an, das Bulgakow freimütig beim Namen nannte. Ich habe schon immer vermutet, dass ein Schriftsteller eine intensive Beziehung mit sich selbst pflegt. Diese Beziehung kann so allumfassend werden, dass die Außenwelt völlig unwichtig wird. Ich selbst fühlte mich in meiner eigenen Gesellschaft immer wohl, mehr sogar, ich fühlte mich nicht allein. Dorothea Brande hat meine zweite Persönlichkeit legitimiert, und so gehöre ich auch zur Zunft der Schreibenden. Die nüchterne mathematische Logik hinkt bei dieser Schlussfolgerung auf beiden Beinen, aber ich klammere mich an jedem Grashalm fest, um nicht im Sumpf der Mutlosigkeit zu ertrinken.
«Der erste Vorteil, den Ihnen diese neue Doppelnatur bringt, ist der, dass Sie zwischen sich und der Welt nun eine durchsichtige Trennwand errichtet haben, hinter der Sie in Ruhe in die Rolle einer Künstlerpersönlichkeit hineinwachsen können.»
Großartig. Ich darf mich weiterhin von allem abschotten, was mich nervt oder langweilt. Schriftsteller sind eben so.
Die Ode an die Übung
«Mühelos schreiben». Am Morgen, am Tag und am Abend. Im Bett, am Arbeitstisch, auf der Toilette. Jeden einzelnen Tag. Alles aufschreiben, was einem «in den Sinn kommt, Bedeutungsvolles und Unsinniges, Scherzgedichte oder Balladen.» Sich ein Ziel setzen, und sei es nur eine Viertelstunde täglich zu schreiben. Diese Viertelstunde ist einzuhalten, als ob das ganze Leben davon abhängen würde – was im Grunde genommen auch wirklich der Fall ist, denn Schriftsteller zu sein ist eine Lebensaufgabe. Dann kommt der Paukenschlag:
«Wenn Sie hier scheitern, dann lassen sie es ganz.»
Ich lasse das Buch fallen, wie wenn es sich plötzlich in glühende Kohle verwandelt hätte. Diese Direktheit ist mir unheimlich. Erst einige Tage später sehe ich ein, dass es zwischen Schreiben und Nichtschreiben keinen Mittelweg gibt. Die Last der Erkenntnis droht mich zu erdrücken, aber es kommt noch schlimmer.
Schreiben als Martyrium.
Wohlfühlschreiben? Fehlanzeige. Auf mich warten Aufgaben, eine schwerer als die andere, die Überschriften verraten das:
- «Kritische Betrachtung des eigenen Stils.»
- «Selbstauferlegte Regeln.»
- «Wie ein Schriftsteller lesen lernen.»
- «Wieder richtig sehen lernen.»
- «Sich mit seinem Unbewussten anfreunden.»
- «Rhythmus, Monotonie und Stille.»
- «Das künstlerische Koma.»
Meine anfängliche Fröhlichkeit ist verflogen. Ich frage mich, ob ich das alles schaffe. Ein ganzes Leben würde dafür nicht ausreichen, und ich habe ohnehin kein ganzes Leben mehr zur Verfügung, nicht einmal ein halbes. Der Sumpf der Mutlosigkeit schmatzt gierig um mich herum. Hilfe…
- «Lernen, sich zu kontrollieren.»
Ich straffe meinen Rücken mit der Würde einer Mittelmäßigkeit, die entgegen allen, auch eigenen, Erwartungen schon etliche Herausforderungen gemeistert hat. Erfolg liegt nicht in meiner Hand, Selbstkontrolle schon. Obwohl mir Dorothea Brande Einsamkeit und Mühsal in Aussicht stellt, lasse ich mich nicht von meinem Entschluss abbringen, schreiben zu lernen, ganz gleich, wie es enden sollte. Ich bereue lieber, etwas gewagt zu haben, als es nicht gewagt zu haben.
Leseempfehlung?
Nein, trotz Tipps und Anregungen zum Lesen und Beobachten. Gegen Dorothea Brandes Ansicht habe ich zwei Einwände. Erstens darf man sich beim Schreiben durchaus am eigenen Tun und allgemein am Leben freuen. Zweitens gibt es für nichts Wertvolles auf der Welt eine Zauberformel, auch für Schriftstellerei nicht.
Statt zu beflügeln, bremst dieses Buch einen Anfänger aus. Es kommt in die hinterste Ecke meines Bücherregals.