Ein Jugendtraum
Zum ersten Mal höre ich seine Stimme an einem düsteren Dezemberabend 1985.
Ich muss bei der Schuldisco auflegen, ein Bekannter leiht mir eine Kassette mit Modern Talking. «Auf der zweiten Seite ist etwas anderes, das brauchst du nicht», sagt er. Aus Neugier höre ich’s mir an. Es ist Accept, Metal Heart. Die skalpellscharfe Stimme des Vokalisten geht mir durch Mark und Bein. Bald erfahre ich seinen Namen: Udo Dirkschneider.
Mit dieser Kassette, kopiert von einer anderen Kassette, wiederum kopiert von einer Schallplatte vom Schwarzmarkt, beginnt für mich die Heavy-Metal-Ära. Udo wird zu meinem Idol. Später höre ich natürlich auch Iron Maiden, Manowar, Metallica, aber nichts und niemand kann Accept aus meinem Herz verdrängen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, Udo einmal live in einem Konzert zu erleben, doch wer hinter dem eisernen Vorhang lebt, kann davon nur träumen.
Udos Stimme begleitet mich durch Tiefs und Hochs meines Lebens. Ich kaufe alle Kassetten von Accept, die ich auftreiben kann. Der eiserne Vorhang fällt. Kassetten werden durch CDs ersetzt. Ich wandere aus. Die CDs weichen mp3-Dateien. «Irgendwann einmal werde ich Udo doch noch live sehen», sage ich ab und zu.
Und das geschieht.
Ein düsterer Dezemberabend 2017. Ich stehe in einem Klub direkt vor der Bühne, zusammen mit meiner erwachsenen Tochter, und werfe meinem ergrauten Jugendheld die Metalhand zu. Zwei junge Gitarristen feuern die Solos ab, die älter als sie selbst sind, Udos Sohn spielt Schlagzeug. Udo brüllt Metal Heart. Ich brülle mit und fühle mich wieder wie sechzehn, das ganze Leben liegt vor mir, und alles ist noch möglich.